Reichsgründung und Wahl zum ersten Deutschen Reichstag im Frühjahr 1871
Die symbolträchtige Proklamation des Deutschen Kaiserreichs fand am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses bei Paris statt. Vorausgegangen war eine dem erfolgreichen Kalkül des Kanzlers des Norddeutschen Bundes folgende Politik. Otto von Bismarck versprach sich von einem Krieg mit Frankreich ein engeres Zusammenrücken von Norddeutschem und Süddeutschem Bund und das Erstarken eines die Nationalstaatsgründung forcierenden Patriotismus. Der Sieg von Sedan am 2. September 1870, die Gründung des Deutschen Bundes mit Baden und Hessen und der Beitritt Bayerns und Württembergs zur Deutschen Bundesverfassung im November 1870 ebneten schließlich den Weg zur Reichsgründung.
Die heimische Bevölkerung, die über das Kriegsgeschehen und die politische Entwicklung mittels der in den Kreisen Siegen und Wittgenstein erscheinenden Zeitungen informiert wurde, hat die zunächst noch in Frankreich aufgesetzten Nachrichten über die Reichsgründung größtenteils mit Begeisterung aufgenommen. Vor Ort ist die Reichsgründung mit Festbeleuchtungen, Fackelzügen und Musikkonzerten gefeiert worden.
Berichte des Wittgensteiner Kreisblatts vom 4. Februar und 4. März 1871
Bildnachweis: zeit.punktNRW – Wittgensteiner Kreisblatt
Die erste Wahl zum Deutschen Reichstag war Teil des Prozesses der Reichsgründung. Die Wählerlisten des Reichstagswahlkreises Wittgenstein-Siegen-Biedenkopf wurden bereits ab Mitte Januar 1871 öffentlich ausgelegt. Der Deutsche Reichstag trat an die Stelle des 1867 gewählten Reichstags des Norddeutschen Bundes, in dem der Wahlkreis durch den Siegener Landrat Albert von Dörnberg (links) vertreten worden war. In den ebenfalls in Berlin tagenden Preußischen Landtag war im Wahlkreis Siegen-Wittgenstein zuletzt Heinrich Achenbach gewählt worden. Achenbach hatte sich dort maßgeblich an der Bildung der Fraktion der Freikonservativen beteiligt.
Bildnachweise:
Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein
Stadtmuseum Berlin
Bei der auf den 3. März 1871 terminierten Reichstagswahl erhielt der vom den Anhängern der linksliberalen Fortschrittspartei aufgestellte Hüttenbesitzer Gustav August Jung aus Amalienhütte bei Laasphe 4.802 und der von den Konservativen nominierte und sich selbst zu den Freikonservativen zählende Albert von Dörnberg 4.702 Stimmen. Im Raum Freudenberg hatten 212 Wähler für Heinrich Achenbach gestimmt, obwohl dieser gar nicht zur Wahl angetreten war. Die am 16. März durchgeführte Stichwahl fiel mit 7.619 zu 6.011 Stimmen eindeutig zugunsten des Kandidaten Gustav Jung aus. Doch Gustav Jung nahm das Mandat nicht an. Bei der daraufhin am 15. April durchgeführten Nachwahl gewann Landrat von Dörnberg mit 5.999 Stimmen gegen den liberalen Kandidaten Ludwig von Beughem (oben rechts) mit 4.613 Stimmen.
Bildnachweis: zeit.punktNRW – Wittgensteiner Kreisblatt
Diese erste Wahl zum Deutschen Reichstag verlief in den Kreisen Siegen und Wittgenstein äußerst turbulent. Zu dieser Zeit hatte die Bildung der politischen Parteien in Preußen und im Deutschen Kaiserreich gerade erst begonnen. Es war daher nicht ungewöhnlich, dass örtliche Wahlkomitees Kandidaten nominierten, die sich nicht ausdrücklich zu ihrer Kandidatur erklärt oder die Wahl nicht angenommen haben. Die Kandidatur und Wahl von Gustav Jung und die Nichtannahme des Mandats war Ausdruck einer den Wahlkampf von 1867 in seiner Schärfe noch übertreffenden Auseinandersetzung zwischen den konservativen und liberalen politischen Gruppierungen des Wahlkreises. Dieser Wahlkampf wurde auch über die lokalen Zeitungen geführt – siehe: Berichterstattung im Wittgensteiner Kreisblatt und Berichterstattung im linksliberalen Siegener Volksblatt.
In den sich herausbildenden politischen Lagern kam dabei neben den weltanschaulichen Grundüberzeugungen auch der Frage einer angemessenen politischen Repräsentation der einzelnen Landkreise eine wichtige Bedeutung zu. Mit der Zeit war es insbesondere der freikonservative Landtagsabgeordnete Heinrich Achenbach, der die speziellen Interessen des Kreises Wittgenstein – vor allem nach einem Anschluss an das Eisenbahnnetz – in der Reichshauptstadt Berlin zur Geltung brachte.
Bildnachweis: Siegerlandmuseum Siegen
Zur Berichterstattung im Wittgensteiner Kreisblatt