Zeitpuren 1 - Einleitung
Gestützt auf die reichhaltige historische Literatur wird die Geschichte des Siegerländer und Wittgensteiner Raums erstmals zusammen und im Kontext der allgemeinen Entwicklung des Reiches erzählt. Der erste Band der „Zeitspuren“ beschäftigt sich mit der Besiedlung des Landes, der Entwicklung der grundherrschaftlichen Verhältnisse und der allmählichen Herausbildung der politischen Herrschaftsstrukturen in der noch vorterritorialen Zeit des Früh- und Hochmittelalters (750–1250).
In Geschichtsdarstellungen wird das vergangene Geschehen aus der Perspektive der Gegenwart immer wieder aufs Neue (re-)konstruiert. Das Siegerland und Wittgenstein sind erst seit einem Vierteljahrhundert als politische Einheit verbunden. Gegenwärtig sind die gemeinsamen Ursprünge beider Teilregionen, ihre jahrhundertelange Nachbarschaft und ihre wechselseitigen Beziehungen zueinander von besonderem Interesse, da sie zur Bildung eines gemeinsamen Identitätsgefühls beitragen.
Bei dieser (Re-)Konstruktion der regionalen Geschichte werden die Erkenntnisse der älteren Forschungsliteratur mit dem neuesten Wissen der Mittelalterforschung verbunden. Da die Quellenüberlieferung zum Früh- und Hochmittelalter ausgesprochen desolat ist, werden die zahlreichen Fehlstellen mithilfe der Übertragung historischer Befunde benachbarter Regionen geschlossen. Auf diese Weise gelingt es, die Siegerländer und Wittgensteiner Geschichte zusammenhängend und ohne allzu große Bruchstellen darzustellen.
Das Buchprojekt „Zeitspuren“ versteht sich bewusst nicht als wissenschaftliche Kreisgeschichte, sondern als wissenschaftlich fundierte und ein größeres Lesepublikum ansprechende Überblicksdarstellung der Siegerländer und Wittgensteiner Geschichte. Mit der Buchreihe kann das öffentliche Interesse an einer modernen Kreisgeschichte gesteigert, und günstigenfalls können potentielle Unterstützer für ein solches Vorhaben gewonnen werden.
Zeitpuren 1 - Natürliche und klimatische Voraussetzungen
Die Mittelgebirgsregion an den Oberläufen von Sieg, Eder und Lahn war im Frühmittelalter ein feuchtes, kühles Waldland ohne größere waldarme und waldfreie Flächen. Die klimatischen Verhältnisse waren rau und feucht. Die Höhenschichten der Landschaft erreichen in den Flusstälern 200 bis 300 Meter und steigen in Stufen bis zu 700 und 800 Meter in den Gebirgslagen an.
Oberflächenform und Bodenbeschaffenheit wirken sich ebenso wie Niederschlagsmengen auf die Höhe der landwirtschaftlichen Erträge aus. Klima, Höhenlage, Bodenbeschaffenheit und Vegetation haben in frühmittelalterlicher Zeit zu eher siedlungsfeindlichen Bedingungen beigetragen.
Zeitpuren 1 - Fränkische Landnahme in Siegerland und Wittgenstein
Römische Kaiserzeit und Völkerwanderung haben in unserer Region keine unmittelbaren Spuren hinterlassen. Erst nach der Auflösung des römischen Imperiums und der Bildung und Expansion des Großreichs der Franken wurden allmählich die Weichen für die Einbeziehung unseres Mittelgebirgsraums in die größeren politischen und kulturellen Zusammenhänge gestellt.
Die ersten sicheren Nachrichten kulturellen Lebens stammen aus der Mitte des 9. Jahrhunderts, als der Wittgensteiner und der Siegerländer Raum im Zuge der fränkischen Landnahme über die frühen Höhenwege neu besiedelt wurden.
Fränkische Landnahme und Missionierung gingen Hand in Hand. Zur Mitte des 9. Jahrhunderts wurde die Missionierung von den drei Erzbistümern Mainz, Köln und Trier vorangetrieben. Die Missionare des Erzbistums Mainz dürften das Wittgensteiner und auch das Siegerland als erste erreicht haben.
Die frühesten Zeugnisse der Besiedlung sind die Martinskirchen in Raumland, Feudingen, Netphen und Siegen, die im Verlauf der Missionierung errichtet worden sind.
Geistliche und weltliche Grundherren aus dem bereits länger unter fränkischer Herrschaft stehendem hessischen Raum werden die Träger dieser Siedlungsbewegung gewesen sein. Die fränkischen Siedler, die auf eine dünne Schicht einheimischer Bevölkerung getroffen sein dürften, ließen sich an den günstigsten Siedlungsplätzen nieder.
Siedlungsperiode der fränkischen Landnahme
Günstige Siedlungslagen fanden sich in den breiten Talauen an den Schnittpunkten mehrerer Flusstäler, wo die Talhänge abgeflacht waren und terrassenartig hangaufwärts strebten. Spuren dieser frühen Siedlungsentwicklung finden sich noch heute in den Ortsnamen und in Ortsnamensendungen.
Unter Karl d. Großen erreichte das Frankenreich den Höhepunkt seiner Machtausdehnung. Im Zuge der Festigung der Herrschaftsordnung bildete sich das Lehnswesen aus, das die innere Verfassung des Reiches und die Adelsbeziehungen über Jahrhunderte prägen sollte.
Über die Einführung der Grafschaftsverfassung sollte das Reich zentralistisch auf das Königtum ausgerichtet werden. Innerhalb der karolingischen Grafschaften, die nicht überall vollständig ausgebildet werden konnten, wurden weiter die älteren Gaunamen als Landschaftsbezeichnungen benutzt. Aufgrund urkundlicher Belege kann der Wittgensteiner Raum dem Hessengau zugerechnet werden. Für das Siegerland sind aus dieser Zeit keinerlei schriftliche Quellen überliefert.
Gaueinteilung im 8. und 9. Jahrhundert
Die Sachsenkriege Karls d. Großen (772–804) haben den Siegerländer und Wittgensteiner Raum nicht unmittelbar berührt, sondern mit der Schlacht im oberhessischen Laisa nur gestreift. Der Mittelgebirgsraum wurde von den großen Heerstraßen der Franken und Sachsen nicht erfasst.
Heerwege im fränkisch-sächsischen Grenzgebiet
Siegerland und Wittgenstein, so die Hypothese der Forschung, haben einen vorgeschobenen Grenzschutzbezirk gegen die Sachsen, eine gemeinsame Grenzmark unter einem militärischen Befehlshaber gebildet und waren in ein System militärischer Befestigungsanlagen einbezogen. Besondere Bedeutung muss dabei der Festung bei der Martinikapelle auf dem Felssporn des Siegbergs oberhalb der Siegener Ansiedlung zugekommen sein. Die ersten schriftlichen Nachrichten überhaupt erreichen uns aus der Zeit zwischen 800 und 830. Verschiedene weltliche Grundherren und Adlige übertrugen Güter und Leibeigene an geistliche Grundherrschaften. Diese Güterübertragungen in Arfeld, Raumland, Hesselbach und Laasphe sind im Codex Laureshamensis des Klosters Lorsch und im Codex Eberhardi des Klosters Fulda festgehalten worden.
links: Codex Laureshamensis, Kloster Lorsch
rechts: Codex Eberhardi, Kloster Fulda
Zeitpuren 1 - Der fränkische Landesausbau unter den Konradinern
Nach dem Zerfall des fränkischen Großreichs wählten die Stammesherzöge der Bayern, Franken, Sachsen und Schwaben aus ihrer Mitte den fränkischen Herzog Konrad I. zum König des neuen ostfränkischen Reiches. Die Gebiete des Auel-, Hessen- und Lahngaus gehörten zum Kerngebiet des Herrschaftsbereichs der Hochadelsfamilie der Konradiner.
Abschrift der Urkunde von 914 und 1048
In der Abschrift einer Urkunde aus dem Jahr 914, die 1048 erneuert und ergänzt wurde, ist im Zusammenhang mit dem Bezirk der Pfarrkirche von Haiger auch die südliche Grenze des Siegerlandes beschrieben worden. Auch Güter im Hickengrund, die sich im Besitz freier Männer befinden, werden dort erwähnt.
In der Zeit der konradinischen Herrschaft lässt sich eine weitere Siedlungsbewegung beobachten, die vermutlich ihren Ausgangspunkt in Haiger und im Gebiet um Amöneburg genommen hat. Ein Teil der im Rahmen dieser fränkischen Ausbauperiode neu entstandenen Ansiedlungen im Siegerländer und Wittgensteiner Raum ist noch heute an den Endungen der Ortsnamen auf -dorf und auf -hausen zu erkennen.
Fränkische Ausbauperiode
Archäologische Funde bestätigen einige der Annahmen über die frühmittelalterliche Siedlungsentwicklung. In Wittgenstein sind zahlreiche Keramikreste gefunden worden, die als Badorfer oder Pingsdorfer Keramik identifiziert werden konnten. Durch die Entdeckung der Waldschmiedesiedlung Fludersbach bei Siegen ist zudem der sichere Nachweis über die Wiederaufnahme der Eisenerzeugung in frühmittelalterlicher Zeit gelungen.
Keramikfunde aus Wittgenstein und Fludersbach
Zeitpuren 1 - Die Herrschaftsverdichtung zu Beginn des Hochmittelalters
Durch den Übergang der Königsherrschaft von den fränkischen Konradinern zu den sächsischen Ottonen wurde die gesamte hessisch-sächsische Grenzzone politisch völlig umgestaltet. Nach einer Aufteilung in kleinere Herrschaftseinheiten war der gesamte Raum nach der Jahrtausendwende wieder in einer Großgrafschaft unter der Familie der Grafen Werner vereinigt.
In welcher Weise das Siegerland und Wittgenstein in dieses durch unterschiedliche (Amts-)Grafen regierte Herrschaftsgefüge einbezogen waren, erschließt sich aufgrund fehlender Quellenbelege nur undeutlich. Lediglich die kirchliche Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz steht außer Frage. Im Zuge des Ausbaus der Kirchenorganisation wurde in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts das Dekanat Arfeld errichtet, das sich über das Siegerland und Wittgenstein erstreckte.
Vermutlich gehörten beide Teilregionen einem einheitlichen Herrschaftsbezirk an, über den ein in der Siegener Ansiedlung ansässiger Kirchenvogt des Erzbistums Mainz die Oberhoheit beanspruchte. Ein Kirchenvogt mit Namen Rupertus wird in der Abschrift einer Urkunde des Kölner Erzbistums aus den Jahren 1079–1089 erwähnt. Auch die Urkunde mit der Ersterwähnung von Ferndorf aus dem Jahr 1067 ist vom Erzbistum Köln ausgestellt worden.
Urkunde von 1067 und Abschrift der Urkunde von 1079-89
Die wenigen bis ins 11. Jahrhundert überlieferten Quellen lassen darauf schließen, dass im Siegerländer und Wittgensteiner Raum eine Vielzahl von unterschiedlichen geistlichen und weltlichen Grundherrschaften vorhanden waren. Die Lehnsbindungen der adligen Grundherren bzw. der Verwalter geistlicher Grundherrschaften waren entweder zum Erzbistum Mainz oder zum Erzbistum Köln ausgerichtet.
Infolge der hochmittelalterlichen Bevölkerungsexpansion waren die Bevölkerungszahlen zwischen 950 und 1250 deutlich angewachsen. Während dieser Ausbau- und Rodeperiode dürfte die Zahl der Siedlungen im Siegerland auf etwa 200 und in Wittgenstein auf etwa 90 angestiegen sein.
Hochmittelalterliche Ausbau- und Rodeperiode
Durch die Auflösung der Fronhöfe und die Veränderung der Siedlungsstruktur entwickelte sich die Mehrzahl der Siedlungen zu Dörfern. An einzelnen Siedlungsschwerpunkten wie Siegen und Laasphe entstanden größere Marktsiedlungen.
Zeitpuren 1 - Die Herausbildung der regionalen herrschaftlichen Machtzentren
Im hohen Mittelalter setzte ein Prozess der Herrschaftsbildung und Herrschaftsverdichtung ein, in dessen Verlauf die Voraussetzungen für die Entstehung der Landesherrschaft im späten Mittelalter geschaffen wurden.
Die im neuen Reichsfürstenstand zusammengeschlossenen geistlichen und weltlichen Fürsten verstärkten ihre Territorialpolitik, und die zu ihnen im Lehnsverhältnis stehenden neuen Grafenfamilien begannen damit, eigene Burgen zu errichten und ihre Macht auf Kosten ihrer Lehnsherren auszuweiten.
Rupert III. von Nassau auf einer Siegener Münze, ca. 1170
Als Inhaber der Kirchenvogtei für das Mainzer Erzbistum gelang es den Grafen von Nassau, zur mächtigsten Adelsfamilie des Siegerlandes aufzusteigen. Auf einer um 1170 geschlagenen Münze erscheint Rupert III. von Nassau, der bei Kaiser Barbarossa in hohem Ansehen stand und ihn zwanzig Jahre später auf seinem Kreuzzug begleiten sollte, als Graf und Stadtherr in Siegen.
Werner von Wittgenstein als Zeuge, 1174
Seit 1174 wird Graf Werner von Wittgenstein, dessen Herkunft bis heute nicht endgültig geklärt werden konnte, mehrfach als Zeuge in kaiserlichen und fürstlichen Urkunden erwähnt. Der Herrschaftsbereich der Familie beschränkte sich zunächst auf das Siedlungsgebiet um Laasphe, weitete sich durch eine geschickte Heiratspolitik schon bald nach Süden und Osten aus.
Seit 1174 wird Graf Werner von Wittgenstein, dessen Herkunft bis heute nicht endgültig geklärt werden konnte, mehrfach als Zeuge in kaiserlichen und fürstlichen Urkunden erwähnt. Der Herrschaftsbereich der Familie beschränkte sich zunächst auf das Siedlungsgebiet um Laasphe, weitete sich durch eine geschickte Heiratspolitik schon bald nach Süden und Osten aus.
links: Hermann von Wilnsdorf als Zeuge, 1174
rechts: Godebert von Diedenshausen als Zeuge, 1196
Am Ende des 12. Jahrhunderts war der Siegerländer und Wittgensteiner Raum von einer Vielzahl unterschiedlicher Herrschaftsrechte durchsetzt. Vermittelt über die Lehnsbindungen verfügten neben den Grafenfamilien auch das Mainzer, Kölner und – im südlichen Siegerland – das Trierer Erzbistum über Einkünfte und Einfluss. Daneben bildete sich die zum Erzbistum Mainz gehörige Kirchenorganisation des Dekanats Arfeld mit ihren in den größeren Ansiedlungen errichteten Haupt- und Tochterkirchen aus.
Kirchliche Organisation, Mitte 13. Jahrhundert
Zeitpuren 1 - Die Anfänge der Landesherrschaft in Siegerland und Wittgenstein
Die Herrschaftsstrukturen im Hochmittelalter waren noch überwiegend von persönlichen, über das Lehnswesen vermittelte Beziehungen geprägt. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts beginnt sich die Tendenz zur Versachlichung der Lehnsbeziehungen mit dem Streben nach Gebietsherrschaft zu verbinden.
Die Nassauer Grafen, die über weit verzweigte Verwandtschaftsbeziehungen verfügten und um 1220 Heiratsbeziehungen in das Gebiet der späteren Niederlande knüpften, gründeten 1224 gemeinsam mit dem Kölner Erzbischof die Stadt Siegen. Durch die Erbteilung von 1255 erhielt Graf Otto den nördlichen Teil der Herrschaft, der das Gebiet um Herborn und Dillenburg und das Siegerland umfasste, und Graf Walram den südlichen Teil.
Siegener Urkunde von 1224 und Berleburger Urkunden von 1258
Als Lehnsmänner rivalisierender Fürsten, des Mainzer Erzbischofs und des Landgrafen von Thüringen, hatten die Wittgensteiner Grafenbrüder ihre Herrschaftsansprüche durch eine geschickte Schaukelpolitik zwischen den beiden großen Mächten zu behaupten. Der zunächst um die Grafschaft Battenberg erweiterte Teil des Herrschaftsgebiets ging infolge einer Erbteilung wenig später wieder verloren.
Als dauerhaft sollte sich dagegen die mit einer erfolgreichen Heiratspolitik verbundene Ausdehnung in den Ederraum erweisen. Gemeinsam mit den Edelherren von Grafschaft gründete Graf Sigfrid von Wittgenstein 1258 die Stadt Berleburg. Laasphe war bereits wenige Jahre zuvor zur Stadt erhoben worden.
Die Gründung der Städte Siegen, Laasphe und Berleburg ist Ausdruck einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung des Siegerländer und Wittgensteiner Raums. Über die Nutzung der Erzvorkommen geben die Entwicklung der Bergbausiedlung Altenberg und die Verleihung des Münzregals an die Nassauer Grafen Auskunft.
Urkunde von Stift Keppel von 1239
Einen Eindruck von den religiösen Verhältnissen vermitteln die Klostergründungen in Siegen und Keppel und die neuen Kirchenbauten zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Im Zusammenhang mit der religiösen Armutsbewegung und der Gründung neuer religiöser Gemeinschaften wurde auch der Raum um Siegen von der Ketzerverfolgung gestreift: die Burg der Edelherren von Wilnsdorf soll auf Veranlassung des Inquisitors Konrad von Marburg zerstört worden sein.
Nikolaikirche Siegen, Aufnahme von 1897